Wer ist Lila?

Lila Rosenroth (* vor 1918 in einem kleinen Ort zwischen Königsberg und Berlin – …)

Wuchs glücklich mit zwei Vätern, der Mutter und einem Zwillingsbruder auf dem Land auf
1918-1924 Studium der Naturwissenschaften an der Berliner Universität, Abschluss als eine der ersten Frauen ihrer Fakultät
1933 Emigration in die Neue Welt und Gründung einer Familie; mittlerweile mehrfache Großmutter, Urgroßmutter und Ur-Urgroßmutter
Seit 1969 regelmäßige Reisen durch Europa, Afrika, Asien und Australien
Liebt die Nacht, den Sternenhimmel und Kinder. 

Vor einigen Jahren machte ich mit meiner Familie Urlaub auf der Insel Capri. Bei einer Bootsfahrt durch die berühmte Blaue Grotte begegnete ich Lila zum ersten Mal. Schon damals muss sie uralt gewesen sein. Unzählige Falten und Fältchen durchzogen ihr Gesicht und bedeckten ihre Arme und Hände. In ihren Augen, die das azurblaue Leuchten der Grotte reflektierten, tanzten goldene Fünkchen, die an Sterne erinnerten. Ein weißes Leinenkleid bedeckte ihren zerbrechlich wirkenden Körper. Elegant und würdevoll saß sie mit uns im Boot, die weißen Haare unter einem elfenbeinfarbenen Turban versteckt. Als sie uns mit ihrem scheuen Blick anlächelte, wehte ein Hauch von Zitronenblüten über das Wasser.
Von diesem Tag an sahen wir sie öfter, wenn wir abends durch die Straßen spazierten oder die Insel abseits der Ortschaften erkundeten. Einmal saß sie mit einem ungefähr gleichaltrigen Mann, der stets in einen dreiteiligen hellen Sommeranzug gekleidet war und einen Strohhut trug, auf einer steinernen Bank an den Ruinen der Tiberius-Villa und schaute auf das Meer hinaus. Die beiden schienen merkwürdig vertraut miteinander zu sein und sich wortlos zu verstehen. Ein sonderbar altmodischer Sonnenschirm aus weißer Spitze beschattete sie. Ein anderes Mal trafen wir Lila bei Sonnenuntergang allein am Strand, wo sie in der Abendkühle auf einem Felsen saß. 

Eines Abends, die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden und die ersten Sterne standen am Himmel, fanden wir sie unterhalb des Monte Solaro mit geschlossenen Augen unter einem knorrigen Zitronenbaum ruhend. Ich wollte sie nicht stören und war gerade dabei, einen anderen Weg einzuschlagen, als meine damals acht Jahre alte Tochter – für mich unerwartet – mit flinken Sprüngen zu ihr hüpfte und sich neben sie auf die mit silbrigen Sternen bestickte Decke setzte. Die Situation war mir unangenehm, und ich wollte schon schimpfen, blieb aber still, als ich sah, wie die alte Dame die Augen aufschlug, lächelte und mit einer einladenden Geste neben sich deutete. So lernten wir uns kennen.
Von nun an trafen wir uns bis zu unserer Abreise zwei Wochen später fast jeden Abend an dem Zitronenbaum. Sie sprach anfangs wenig und hörte lieber zu, wenn meine Tochter munter auf sie einplapperte. Sie gewöhnte sich aber schnell an unsere Gesellschaft, ihre Worte kamen häufiger und schließlich begann sie, auf die neugierigen Fragen meiner Tochter – die mir anfangs schrecklich peinlich waren, Lila aber nicht zu stören schienen – aus ihrem Leben zu erzählen. In welchem Jahr sie genau geboren war, wollte sie uns nicht verraten. Es muss aber zu einer Zeit gewesen sein, als Glühlampen noch etwas ganz Neues waren und viele Menschen ihre Wohnungen mit Gaslampen oder Kerzenlicht beleuchteten. Über die kopfsteingepflasterten Straßen der Städte und kleinen Ortschaften fuhren keine Autos, sondern holperten Pferdefuhrwerke und Kutschen. Lila ist auch nicht ihr richtiger Name. Ihre Väter hätten sie so gerufen, sagte sie, und ebenso ihr Bruder. An dieser Stelle wurde sie von meiner Tochter unterbrochen, die aufgeregt lossprudelte: Zwei Väter? Das geht doch gar nicht! Lila lächelte nur.

Als sie jung war, studierte sie als eine der ersten Frauen an der Berliner Universität. Nachdem die goldenen Zwanziger zuendegegangen waren und sich die Wolken am Himmel über Berlin schon längst verdunkelt hatten, schiffte sie sich in Hamburg auf einem der riesigen Ozeandampfer ein, die damals noch die einzige Verbindung in die Neue Welt darstellten. Keinen Fuß mehr setzte sie in den kommenden Jahren auf den Boden ihrer Heimat. In Amerika angekommen gründete sie eine Familie. Wie ein Sprößling, der zu einem starken Baum heranwächst, dessen Äste sich mit den Jahren verzweigen, bunte Blüten treiben und süße Früchte tragen, wuchs auch ihre Familie. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (ihre Kinder waren längst erwachsen, hatten ihr Enkel und Urenkel geschenkt) packte sie in der Stille ihres Hauses immer häufiger die Sehnsucht nach den Orten ihrer Kindheit und Jugend, und schon bald streifte sie wieder durch die Städte und Städtchen des alten Europas.
Am Vorabend unserer Abreise hatte sich der Himmel mit dunklen Wolken zugezogen. Wir waren wie üblich bei Sonnenuntergang an dem alten Zitronenbaum verabredet und trafen sie dort in nachdenklicher Stimmung. Es nieselte und sah nicht nach einem Sonnenuntergang aus. Plötzlich aber erhob sich säuselnd ein Wind vom Meer und die rote Sonne brach durch die Wolken. Ein zarter Regenbogen erschien wie von Zauberhand gemalt am regenfeuchten Abendhimmel. Lila betrachtete ihn einen kurzen Moment schweigend. Die glücklichen Falten eines nicht zu unterdrückenden Lächelns umspielten ihre glitzernden blauen Augen und ihren Mund, als sie leise zu sprechen begann. Es war ein Märchen, das sie uns auf ihre umständliche Art und mit altmodischen Worten erzählte. Als sie geendet hatte, leuchteten die Sterne am Abendhimmel. Der Wind hatte die verbliebenen Wolken zerstreut und die Zikaden zirpten in den hohen Gräsern. Auf dem dämmrigen Weg nach Anacapri leuchtete uns der weiße Anzug ihres Begleiters entgegen und kam rasch näher. Er reichte ihr seine Hand, half ihr auf, und wir verabschiedeten uns. Auf unserem Weg zurück ins Hotel drehten wir uns noch einmal um. Die Nacht war mittlerweile vollständig hereingebrochen, und in der Ferne konnten wir die beiden weiß schimmernden Figuren sehen, die Hand in Hand allein unter dem weiten Sternenzelt standen. Sie winkten uns ein letztes Ade und waren bald darauf in der Dunkelheit verschwunden.
Seither hören wir von Lila mehrmals im Jahr. In ihrer geschwungenen Handschrift, die mit ihren schwer entzifferbaren Buchstaben wie aus der Zeit gefallen scheint, schreibt sie uns Briefe und Postkarten von den Orten, die sie besucht. Eine der letzten erreichte uns von einem Kreuzfahrtschiff, mit dem sie gerade die Ägäis bereiste.

Ihre Geschichte? Musste ich aufschreiben. Nicht nur meine Tochter wollte sie seit jenem magischen Abend an dem Zitronenbaum auf Capri wieder und wieder hören. Es ist ein merkwürdiges Märchen. Mit einem Anfang voller Liebe, gefüllt mit Traurigkeit, Hoffnung und Grausamkeit, am Ende aber voller Glück. Dabei ist es wie das Leben – ein einziges Wunder. Und schenkte meiner Tochter und ihren Geschwistern die Erkenntnis: Ein Kind kann sehr wohl zwei Väter haben. Und auch zwei Mütter!